Kontinuität oder Paradigmenwechsel? Die Integrations- und Migrationspolitik der letzten Jahre

Jahresgutachten 2024

Die migrations- und integrationspolitische Entwicklung der letzten fünf Jahre war geprägt durch eine sehr hohe Zahl von Schutzsuchenden und die damit einhergehen­den Belastungen, einen wachsenden Bedarf an Arbeits­kräften aus Drittstaaten und eine Verschärfung der poli­tischen Debatten. Der deutsche Gesetzgeber und die zuständigen Verwaltungen haben darauf mit zahlreichen Maßnahmen reagiert. Auf der Ebene der Europäischen Union wurde nach vielen Jahren des Stillstands eine Reform des Gemeinsamen Europäi­schen Asylsystems beschlossen. Der SVR erläutert im Rahmen dieses Jahresgutachtens, welche Maßnahmen im Bereich Migration und Integration getroffen wurden und wie sie sich in der Praxis darstellen.

Jahresgutachten 2024. Kontinuität oder Paradigmenwechsel? Die Integrations- und Migrationspolitik der letzten Jahre (barrierefrei)

Video Statement des SVR-Vorsitzenden Prof. Dr. Hans Vorländer zum Jahresgutachten 2024

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Pressekonferenz zur Vorstellung des SVR-Jahresgutachtens 2024

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Zwischen Öffnung und Restriktion: Eine Bilanz der letzten fünf Jahre

Das Politikfeld Migration und Integration gehörte in den vergangenen fünf Jahren zu den dynamischsten überhaupt. Die Analyse des SVR zeigt: Obwohl die öffentlichen Debatten teilweise sehr zugespitzt geführt wurden und dadurch politischer Handlungsdruck entstand, folgten Politik und Gesetzgebung weitestgehend schon zu­vor beschrittenen Pfaden. Punktuell wurden jedoch auch neue Akzente gesetzt. Die Integrations- und Migrationspolitik war dabei geprägt durch das Ringen um eine Balance zwischen Öffnung und Restriktion, Integrationsförderung und Zuwanderungskontrolle.

Europäische Flüchtlings- und Asylpolitik: Auf die Umsetzung kommt es an

In Europa stellten zwischen 2015 und 2022 im Durchschnitt etwas mehr als 750.000 Personen pro Jahr einen Antrag auf internationalen Schutz. Vor diesem Hintergrund hat sich der europäische Gesetzgeber nach vielen Jahren des Ringens auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geeinigt. Dieses System – darin sind sich viele einig – ist seit Langem dringend reformbedürftig, eine Koordination auf europäischer Ebene zwingend notwendig für eine nachhaltige Steuerung von Fluchtmigration in Europa. Entscheidend wird jedoch sein, dass die vorgesehenen neuen Steuerungsinstrumente in der Umsetzung auch funktionieren. Vor allem dürfen dabei menschen- und flüchtlingsrechtliche Standards nicht ausgehebelt werden, etwa bei den Asylschnellverfahren an den EU-Außengrenzen für bestimmte Gruppen.

Fluchtmigration nach Deutschland: Balance zwischen Rückkehr und Integration 

Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine hat die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausgelöst. Vier Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine haben seither in der Europäischen Union Aufnahme gefunden, mehr als ein Viertel von ihnen in Deutschland.

Mit der steigenden Zahl Schutzsuchender und der daraus entstandenen zunehmenden Belastung vor allem für Kommunen ist die öffentliche Debatte schärfer geworden und der politische Handlungsdruck gestiegen. In der Asylpolitik hat Deutschland in den letzten Jahren einen Balanceakt vollzogen: Programme der Integrationsförderung wurden mit Maßnahmen kombiniert, die die Rückfüh­rung erleichtern sollen. Abschiebungen sind nach Ansicht des SVR jedoch nur als Ultima Ratio durchzuführen, wichtiger sind wirkungsvolle Migrationsabkommen.

Die Politik will auch das Potenzial der Migrantinnen und Migranten besser ausschöpfen, die bereits in Deutschland leben. Eine entsprechende Maßnahme ist das Chancen-Aufenthaltsrecht. Es richtet sich an Ausländerinnen und Ausländer, die grundsätzlich ausreisepflichtig sind, jedoch über eine Duldung verfügen. Sie erhalten künftig die Chance, einen regulären Aufenthaltsstatus zu erlangen, indem sie Integrationsbemühungen nachweisen und eine Erwerbstätigkeit aufnehmen. Der SVR unterstützt diese Entwicklung aus integrationspolitischer Perspektive. Gleichwohl dürfen die Grenzen zwischen Asyl- und Erwerbsmigration nicht weiter verwischen.

Einwanderungsland Deutschland: Arbeitsmarkt weiter geöffnet, Einbürgerung erleichtert

Der demografisch bedingte Arbeitskräftemangel hat zu einer vergleichsweise starken Liberalisierung im Bereich der Erwerbsmigration geführt. Der SVR begrüßt, dass der Arbeitsmarkt im Zuge der Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung auch für Personen geöffnet wird, die keine nach deutschen Standards anerkannte Qualifikation nachweisen können. Zugleich warnt er vor einer Schwächung des Arbeitnehmerschutzes – das gilt vor allem für den Niedriglohnsektor. Auch sind die Regelungen komplex; das könnte die Behörden bei der Umsetzung fordern.

Mit der Anfang 2024 beschlossenen Reform des Staatsan­gehörigkeitsrechts werden insbesondere aufgrund der generellen Hinnahme von Mehrstaatigkeit wesentliche Einbürge­rungshürden beseitigt. Um das im neuen Gesetz vorhandene Potenzial optimal nutzen zu können, müssen die zuständigen Behörden mit der Umsetzung aber Schritt halten können. Dass für Staatenlose keine Regelung gefunden wurde, ist aus Sicht des SVR eine verpasste Chance. Auch empfiehlt der Rat weiterhin zu prüfen, wie die Nachteile einer unlimitierten Weitergabe der deutschen Staatsbürgerschaft über Generationen hinweg vermieden werden können.

Praktische Umsetzung: Bürokratie abbauen, Recht verständlicher formulieren

Die Politik hat im Bereich Migration und Integration außerordentlich viele Veränderungen auf den Weg gebracht. Zugleich ist die Umsetzung von Gesetzen durch die Behörden in Bund und Ländern oft zu langsam und zu bürokratisch.


Weitere Informationen

Seinem Mandat entsprechend geht der SVR in seinem Jahresgutachten 2024 detailliert auf die empirischen und politischen Entwicklungen der letzten 5 Jahre ein. Es ordnet sie ein, bewertet sie und analysiert eventuelle Defizite. Die wichtigsten Ergebnisse sind in den Kernbotschaften zusammengefasst.

Kernbotschaften

1. Einwanderungsland Deutschland: zwischen Öffnung und Restriktion

In der Analyse der integrations- und migrationspolitischen Entwicklungen zeigt sich das schon aus früheren Perioden bekannte Ringen um eine Balance zwischen Öffnung und Restriktion, zwischen Integrationsförderung und Zuzugssteuerung. Dies ist Ausweis dessen, dass Migration in Deutschland seit Langem Normalität ist und gestaltet werden muss. So konstatierten denn auch die derzeitigen Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag von 2021, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Zugleich formulierten sie etliche politische Vorhaben zur weiteren Gestaltung der Integrations- und Migrationspolitik. Viele davon wurden bereits umgesetzt.

Derzeit ist die Migrations- und Integrationspolitik gekennzeichnet von Zuwanderungsbedarf an Arbeitskräften auf der einen und Belastung durch die Aufnahme Schutzbedürftiger auf der anderen Seite. Der demografisch bedingte und verschärfte Arbeitskräftemangel hat dazu geführt, dass der Bereich der Erwerbsmigration vergleichsweise stark liberalisiert wurde.  Demgegenüber wurden im Bereich der Asylpolitik restriktive Maß- nahmen ergriffen, nachdem ab 2022 wieder sehr viele Schutzsuchende ankamen. Zugleich wurde der Arbeitsmarkt auch für Personen geöffnet, deren Asylgesuch nicht oder noch nicht positiv beschieden wurde.

Daneben waren auch neue Entwicklungen zu beobachten: Mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts wurden zentrale Einbürgerungshürden beseitigt. Besonders die grundsätzliche Akzeptanz von Mehrstaatigkeit bedeutet hier einen Paradigmenwechsel. Auch im Bereich der Erwerbsmigrationspolitik wurden neue Wege beschritten. So wurde die Nachweispflicht der Gleichwertigkeit einer im Ausland erworbenen Qualifikation zu deutschen Standards in nicht reglementierten Berufen aufgegeben; künftig reichen auch im Ausland anerkannte Qualifikationen als Nachweis aus (s. Kernbotschaft 3).

2. EU-Flüchtlings- und Asylpolitik in der Krise handlungsfähig; Menschenrechte müssen gewährleistet bleiben

Wie in Deutschland wird auch in anderen EU-Staaten kontrovers über die Steuerung der Fluchtzuwanderung diskutiert. Auf europäischer Ebene, vor allem im Rat, überwiegt aber zumeist der Streit über Zuständigkeiten, Aufnahmeverfahren oder auch die Weiterverteilung von Schutzsuchenden innerhalb der EU. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat die Staatengemeinschaft dagegen schnell und umsichtig reagiert und mit der erstmaligen Aktivierung der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz, der sog. Massenzustrom-Richtlinie, Handlungsfähigkeit bewiesen. Über 4 Millionen ukrainische Flüchtlinge wurden in der EU aufgenommen, mehr als ein Viertel von ihnen in Deutschland.

Zudem verkündeten das Europäische Parlament, der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission im Dezember 2023 nach vielen Jahren der Verhandlung die Einigung auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Wie dringend nötig eine Reform ist, zeigt nicht nur die wieder gestiegene Zahl der in Europa ankommenden Schutzsuchenden. Einige Mitgliedstaaten unterlaufen auch zunehmend geltendes Recht, wie Menschenrechtsverletzungen etwa durch Pushbacks an der EU-Außengrenze belegen. Unterschiedliche Interessen und Positionen einzelner EU-Staaten hinsichtlich der Lastenverteilung bei der Flüchtlingsaufnahme sowie vermehrte Schließungen von Binnengrenzen drohen nicht zuletzt auch grundlegende Errungenschaften der EU infrage zu stellen, etwa die Personenfreizügigkeit. Der SVR begrüßt deshalb grundsätzlich die Einigung auf EU-Ebene. Eine nachhaltige Steuerung der Asylzuwanderung kann nicht durch nationale Maßnahmen allein, sondern nur koordiniert auf europäischer Ebene erfolgen. Dabei müssen jedoch menschen- und flüchtlingsrechtliche Standards unbedingt gewahrt bleiben – sie sind der zentrale Maßstab für das Gelingen der Reform.

Kernstücke der Reform sind eine neue Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement, die einen neuen Solidaritätsmechanismus einführt, eine neue Asylverfahrens- und eine neue Screening-Verordnung. Für Schutzsuchende mit geringen Anerkennungschancen (aus Ländern mit Quoten unter 20 %) sollen an den EU-Außengrenzen unter der Fiktion der Nichteinreise beschleunigte Asylverfahren durchgeführt werden. Im Falle massiver Fluchtbewegungen können diese Grenzverfahren im Rahmen der neuen sog. Krisenverordnung auf andere Gruppen ausgeweitet werden. Der SVR mahnt an, dass Personen, die sich in solchen Verfahren befinden, jederzeit Zugang zu unabhängiger Rechtsberatung haben müssen. Außerdem gilt es, die Unterbringung menschenwürdig zu gestalten. Speziell Personen mit besonderem Schutzbedarf – z. B. Minderjährige oder alte Menschen – brauchen erweiterten Schutz. Die Erfahrungen aus griechischen Aufnahmelagern zeigen, wie schwierig es unter solchen Umständen ist, Schutzsuchende angemessen unterzubringen. Überfüllung und überlange Aufenthaltszeiten sollten vermieden werden. Dafür tragen die EU-Mitgliedstaaten gemeinsam Verantwortung (vgl. hierzu Kernbotschaft 4).

Die Einführung eines verbindlichen Solidaritätsmechanismus zwischen den EU-Mitgliedsländern begrüßt der SVR grundsätzlich. Dass das bisherige System keine Lasten- und Verantwortungsteilung vorsah, war einer der zentralen Konstruktionsfehler des GEAS. Es gilt, die mit der Flüchtlingsaufnahme verbundenen Aufgaben und Verantwortlichkeiten innerhalb der EU gleichmäßiger zu verteilen. Davon würden nicht nur Ankunftsstaaten wie Italien und Griechenland profitieren, sondern auch Zielländer wie Deutschland. Der Solidaritätsmechanismus ist jedoch darauf angewiesen, dass sich alle Mitgliedstaaten beteiligen.  Es bleibt abzuwarten, ob dies gewährleistet werden und der Mechanismus damit die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen kann.

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.2.2.

3. Arbeitsmarkt für weitere Zuwanderung geöffnet; Erwerbstätigkeit kann zu Verstetigung des Aufenthalts führen

Im Bereich der Erwerbsmigration gab es in den letzten fünf Jahren vielfältige gesetzgeberische Maßnahmen und Reformen. Einige davon setzten frühere Entwicklungen fort. Andere dagegen haben im deutschen Erwerbsmigrationsrecht deutliche Änderungen eingeführt. Grund dafür ist nicht zuletzt der demografische Wandel, der den deutschen Arbeitsmarkt zunehmend unter Druck setzt. In immer mehr Berufen und Regionen werden nicht nur Fachkräfte, sondern generell Arbeitskräfte knapp.

Um Abhilfe zu schaffen, hat der Bundestag 2023 das Gesetz und die Verordnung zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung verabschiedet. Die Reform baut auf dem im Jahr 2020 in Kraft getretenen Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf, das den Arbeitsmarkt für die Zuwanderung von beruflich Qualifizierten aus Drittstaaten geöffnet hat. Sie schafft auch für andere Gruppen neue und weitreichendere Möglichkeiten.  So ist es in nicht reglementierten Berufen künftig nicht mehr zwingend erforderlich, die Gleichwertigkeit einer im Ausland erworbenen Qualifikation nachzuweisen. Auch für Personen ohne formale Qualifikation werden die Möglichkeiten der Erwerbszuwanderung erheblich ausgeweitet.

Der SVR begrüßt, dass der Arbeitsmarkt auch für Personen geöffnet wird, die keine nach deutschen Standards anerkannte Qualifikation nachweisen können. Allerdings mahnt er zugleich zur Vorsicht. Erweiterte Zuzugsmöglichkeiten für ausländische Arbeitskräfte dürfen nicht den Arbeitnehmerschutz schwächen. Das betrifft insbesondere den Niedriglohnsektor. Hier ist durch eine enge wissenschaftliche Begleitung zu prüfen, wie sich die Veränderungen jeweils auswirken und inwieweit Möglichkeiten zur Weiterqualifizierung bestehen und genutzt werden. Auch bei der Kommunikation und der administrativen Umsetzung ist mit Herausforderungen zu rechnen, denn die neuen rechtlichen Bestimmungen sind zum Teil sehr komplex.  Bei chronisch überlasteten Behörden könnte das die Gewinnung ausländischer Fachkräfte eher erschweren als erleichtern.

Die aktuelle Bundesregierung hat aber nicht nur für Arbeits- und Fachkräfte aus dem Ausland den Zuzug erleichtert. Sie will auch das Potenzial der Migrantinnen und Migranten besser ausschöpfen, die bereits in Deutschland leben. Eine entsprechende Maßnahme ist das Chancen-Aufenthaltsrecht. Es richtet sich an Ausländerinnen und Ausländer, die grundsätzlich ausreisepflichtig sind, jedoch über eine Duldung verfügen. Sie erhalten künftig die Chance, einen regulären Aufenthaltsstatus zu erlangen, indem sie Integrationsbemühungen nachweisen und eine Erwerbstätigkeit aufnehmen. Der SVR unterstützt diese Entwicklung nicht nur mit Blick auf den zunehmenden Arbeitskräftemangel, sondern auch aus integrationspolitischer Perspektive. Er gibt allerdings zu bedenken, dass Maßnahmen, die einen solchen Spurwechsel erleichtern, ordnungspolitische Überlegungen relativieren. Damit bergen sie auch erhebliche Risiken: Asyl- und Erwerbszuwanderung sind zwei unterschiedliche Migrationswege, die durch Optionen zur Regularisierung des Aufenthalts an Bedeutung verlieren. Bei zu starker Durchlässigkeit spielt es dann irgendwann keine Rolle mehr, ob eine Person regulär einreist, etwa mit vorab erteiltem Visum, oder irregulär, also ohne eine solche im Vorfeld erteilte Aufenthaltserlaubnis. Das könnte die Motivation für eine irreguläre Einreise erhöhen. Ent- sprechend wichtig ist es, solche Effekte begleitend zu erforschen.

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.1.2, B.1.3 und B.2.1.

4. Geförderte Rückkehr stärken, wirkungsvolle Migrationsabkommen aushandeln

Deutschland hat in der Asylpolitik in den letzten Jahren einen Balanceakt vollzogen. Maßnahmen zur Rückführung wurden mit Programmen der Integrationsförderung kombiniert: Öffnende Elemente sollen Flüchtlingen eine rasche Arbeitsaufnahme ermöglichen; restriktive Maßnahmen sollen verhindern, dass die Aufnahmekapazitäten überstrapaziert werden. Dieser Ansatz ist nach Ansicht des SVR zu begrüßen, denn auf diese Weise kann ein Gleichgewicht zwischen integrationspolitischen und steuerungspolitischen Elementen gewahrt werden.

Dass infolge gewaltsamer Entwicklungen weltweit – allen voran der Ukraine-Krieg – wieder sehr viel mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen, stellt politische Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen wie auch die zuständigen Behörden vor große Herausforderungen. Dass in diesem Zuge auch über eine stärkere Migrationssteuerung diskutiert wird, ist nicht neu. In diesem Zusammenhang bemüht sich die Politik seit etlichen Jahren um eine effektivere Ausreisepolitik.  Das betrifft vor allem Personen, deren Asylverfahren ohne Anerkennung endete. Es wurden Programme zur geförderten Rückkehr und Reintegration umgesetzt und weiterentwickelt und mit diversen Herkunftsländern Migrationsabkommen geschlossen.

Eines der größten Hindernisse bei Rückführungen ist   die   mangelnde   Kooperation   wichtiger   Zielstaaten der Rückführung. Wenn Verhandlungen über Rücknahme- und Migrationsabkommen nachhaltig wirken sollen, müssen sie deshalb nach Ansicht des SVR auf Augenhöhe geführt werden: Es gilt, auch die Interessen der Herkunftsländer zu berücksichtigen. Zudem sollten verschiedene Migrationsaspekte gemeinsam behandelt werden. Eine Rücknahmeverpflichtung könnte etwa mit Erleichterungen für Arbeitsvisa einhergehen. Dass inzwischen erste Abkommen dieser Art geschlossen wurden, ist zu begrüßen. Eine Evaluierung und etwaige Nachsteuerung dieser Vereinbarungen sollte jetzt schon eingeplant werden.

Parallel zu Migrationsabkommen hat die Bundesregierung in den letzten Jahren auch versucht, die Durchsetzung der Ausreisepflicht per Gesetz zu erleichtern. 2024 sollen dafür u. a. Regelungen zu Abschiebungshaft und Ausreisegewahrsam verschärft werden. Damit die Grenzen zwischen Flucht- und Arbeitsmigration nicht verschwimmen, kann die Rückkehrpolitik nicht aufgegeben werden. Vorzuziehen ist hier aber die selbständige geförderte Ausreise; sie sollte weiter ausgebaut werden. Abschiebungen dürfen nur als Ultima Ratio durchgeführt werden – dann jedoch möglichst innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Fristen.

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.1.3 und A.2.3.

5. Aufnahme- und Integrationsstrukturen nachhaltig gestalten, Flüchtlinge intelligent verteilen

Die Aufnahme von Schutzsuchenden aus der Ukraine und weiteren Drittstaaten hat viele Kommunen an ihre Belastungsgrenze gebracht. In der Rückschau zeigt sich: Am besten gerüstet waren Kommunen, die früher aufgebaute Strukturen und Ressourcen zur Aufnahme und Unterbringung aufrechterhalten hatten und nun darauf zurückgreifen konnten. Sie reagierten schneller und pragmatischer als Kommunen, in denen keine entsprechenden Kapazitäten bestanden.

Angesichts der steigenden Zahl von Schutzsuchenden hat der Bund in den letzten fünf Jahren die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Flüchtlingsunterbringung angepasst. Baurechtliche Sonderregelungen wurden verlängert, die Wohnsitzauflage entfristet. Zudem verständigten sich Bund und Länder nach längeren Verhandlungen im Herbst 2023 auf ein dynamisches System zur Finanzierung der Flüchtlingsaufnahme und -integration, das eine schwankende Entwicklung der Flüchtlingszahlen berücksichtigt. Das ist ein Fortschritt; so wird die Finanzierung zwischen Bund und Ländern dauerhaft gesichert. Wichtig ist aber auch, wie die Kostenerstattung der Länder an die Kommunen geregelt ist. Hier plädiert der SVR für mehr Transparenz zwischen allen Ebenen.

Eine umfassende Evaluation der Wohnsitzauflage zeigt jedoch, dass diese nicht die beabsichtigte Wirkung hat, sondern Integration eher behindert. Statt vor allem die Niederlassungsfreiheit einzuschränken, sollten Flüchtlinge vielmehr so auf die Kommunen verteilt werden, dass ihre Bedürfnisse und Kompetenzen zu den Lebensbedingungen und Arbeitsperspektiven vor Ort passen (s. hierzu auch Kernbotschaft 6). Deshalb sollten schon bei der Erstverteilung der Schutzsuchenden bestimmte Aspekte berücksichtigt werden, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Flüchtlinge anschließend freiwillig am zugewiesenen Ort bleiben. Darüber hinaus plädiert der SVR für verbindliche Mindeststandards in Flüchtlingsunterkünften.

Eine Ursache für Aufnahmeengpässe sind grundsätzliche Infrastrukturprobleme. Für eine nachhaltige Lösung muss die Politik deshalb vor allem Rahmenbedingungen schaffen, die es ermöglichen, die allgemein bestehenden Bedarfe zu decken. Das betrifft sowohl den Wohnungsmarkt als auch andere Bereiche wie etwa Bildung und Verwaltung. Zuwanderung macht strukturelle Probleme mitunter deutlicher sichtbar; verursacht hat sie sie in den meisten Fällen nicht.

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.1.2, B.1.3 und B.2.1.

6. Zugang zu Ausbildung und Erwerbsarbeit für Flüchtlinge weiter erleichtern, Anerkennung beschleunigen

Die Integration von Flüchtlingen zu fördern ist ein politisches Ziel, das nicht erst die amtierende Bundesregierung verfolgt. Als Herausforderung gestaltet sich hier neben der Unterbringung auch der Zugang zu Aus- und Weiterbildung sowie der anschließende Einstieg in den Arbeitsmarkt.

Verschiedene integrationspolitische Initiativen führten – trotz der Corona-Pandemie – bereits zu einigen Erfolgen. So wurden ausbildungsvorbereitende Maßnahmen speziell für Flüchtlinge gestärkt und eine Gesetzeslücke im Asylbewerberleistungsgesetz geschlossen, um Rechtssicherheit für den Zugang von Asylsuchenden zu ausbildungsvorbereitenden Maßnahmen zu schaffen. Nach 2015 hatte man vor allem Instrumente erprobt, die gezielt Geflüchtete fördern. In den Folgejahren wurden dann Programme für Lernende mit Fluchthintergrund eher ins Regelsystem eingebettet. Diese Entwicklung befürwortet der SVR nachdrücklich. Positive Effekte sind bereits erkennbar: Verglichen mit früheren Jahrzehnten kamen beispielsweise mehr Menschen mit Fluchthintergrund in Arbeit oder Aus- und Weiterbildung.

Dennoch bleiben entscheidende Hürden bestehen. So sieht der SVR die längere Unterbringung in Sammelunterkünften ebenso wie die Wohnsitzauflage kritisch (s. hierzu auch Kernbotschaft 5). Diese Maßnahmen erschweren Neuzugewanderten mit Fluchthintergrund den Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsangeboten. Zudem sollte etwa die Anerkennung vorliegender Qualifikationen vereinfacht und die Weiterqualifizierung vorangetrieben werden – und zwar bundesweit. Nur mit einem kohärenten Vorgehen lassen sich die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Menschen mit Fluchthintergrund perspektivisch als qualifizierte Fachkräfte arbeiten können und nicht prekär beschäftigt werden.

Dazu müssen strukturelle Probleme behoben werden: Wenn aufgrund fehlender Betreuungsplätze Kinder nicht versorgt werden können, der Weg zum Arbeitsplatz zu weit ist und Jobangebote nicht wahrgenommen werden können, weil Qualifikationsnachweise noch nicht vorliegen, haben Flüchtlinge im erwerbsfähigen Alter (vor allem junge Frauen) wenig Chancen, zu arbeiten oder sich weiterzuqualifizieren. Hier muss die Politik an verschiedenen Stellschrauben drehen. Dabei muss sie auch die Frage beantworten, welche Ziele Deutschland bei der Arbeitsmarktintegration prioritär verfolgen will. So kann eine schnelle Arbeitsmarktintegration im Sinne der Schutzsuchenden wie auch der jeweils aufnehmenden Kommunen sein. Sie birgt aber die Gefahr, dass zu wenig in den Erwerb beruflicher Qualifikationen oder von Sprachkenntnissen investiert wird; diese sind auf Dauer jedoch wichtig für eine bessere gesellschaftliche Teilhabe. Daher sollten flexible Programme entwickelt werden: Diese sollten einerseits einen frühzeitigen Berufseinstieg ermöglichen, andererseits die Gelegenheit zu Weiterqualifizierung bieten, um die Aufstiegschancen zu erhöhen und damit prekäre Beschäftigungsbedingungen zu vermeiden.

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. B.2.1 und B.2.2.

7. In Zukunft investieren, Regelsysteme im Bildungsbereich stärken

Vier von zehn Kindern und Jugendlichen in Deutschland haben mittlerweile eine eigene oder familiäre Zuwanderungsgeschichte. Die meisten wurden hier geboren. Viele kamen aber auch in den letzten fünf Jahren als Schutzsuchende nach Deutschland, besonders aus der Ukraine. Sprachliche und kulturelle Vielfalt ist in deutschen Bildungseinrichtungen damit der Normalfall. Diese Vielfalt stellt die Institutionen im Bildungsbereich jedoch vor große Herausforderungen. Wie ein Brennglas haben sowohl die Corona-Pandemie als auch die verstärkte Fluchtmigration Strukturdefizite offengelegt, die im deutschen Bildungssystem schon seit Längerem bestehen: Diesem gelingt es nur schwer, herkunftsbedingte Startnachteile auszugleichen.

Allerdings zeigt sich, dass die zweite Generation, also die der in Deutschland Geborenen, zunehmend zu den Kindern ohne Zuwanderungsgeschichte aufschließt. Kinder und Jugendliche mit eigener Zuwanderungserfahrung und vor allem jene mit Fluchthintergrund sind hingegen besonders benachteiligt: Sie schaffen es seltener auf ein Gymnasium und können später häufiger überhaupt keinen Schulabschluss vorweisen. Die Herausforderungen beginnen bereits am Startpunkt ihrer Bildungskarriere in Deutschland: Aufgrund knapper Aufnahmekapazitäten warten viele Neuzugewanderte teils monatelang auf einen Kita- oder Schulplatz. Hinzu kommt, dass für viele Pädagoginnen und Pädagogen in Kita und Schule die zunehmende Diversität eine große Herausforderung darstellt. Dabei ist eine vielfältige Schülerschaft an sich keine neue Erscheinung, und inzwischen werden umfangreiche Materialien und Fortbildungen zu diversitätssensibler Förderung angeboten, etwa im Bereich der Sprachbildung. Aufgrund des akuten Fachkräftemangels fällt es vielen Bildungseinrichtungen jedoch schwer, sich auf die Bedarfe spezieller Zielgruppen einzustellen und multiprofessionelle Teams einzusetzen, obwohl viele Beschäftigte sich persönlich sehr stark engagieren.

Der SVR legt den politisch Verantwortlichen in den Ländern wie im Bund nahe, hier schnell zu handeln. Es wäre fatal, wenn neu zugewanderte Kinder und Jugendliche zu einer ‚verlorenen Generation‘ würden. Die Ausbildung der jungen Generation – und dies gilt auch für die Neuzugewanderten – ist eine der nachhaltigsten Investitionen in die Zukunft. Um die Bildungsintegration von Zugewanderten zu fördern, sollten die Regelsysteme so ausgestaltet sein, dass sie allen Menschen zugänglich sind, unabhängig von ihrer jeweiligen Herkunft. Das erfordert genügend qualifiziertes Personal und entsprechende Fortbildungsmaßnahmen. Aus dem Ausland stammende Fachkräfte können hier einen wichtigen Beitrag leisten. Dazu sollten die Potenziale der Neuzuwanderinnen und Neuzuwanderer frühzeitiger genutzt, die Anerkennung beruflicher Qualifikationen bei ausländischen pädagogischen Fach- und Lehrkräften vereinfacht und die Weiterqualifizierung idealerweise berufsbegleitend vorangetrieben werden.

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. B.1.1 und B.2.2.

8. Einbürgerung erleichtern, politische Teilhabe von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte fördern

Die gleichberechtigte Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen ist ein Grundpfeiler von Demokratien; sie erhöht das Gefühl von Zugehörigkeit und die Akzeptanz und Legitimität politischer Entscheidungen. Die zentrale Form politischer Mitbestimmung ist die Teilnahme an Wahlen. Sie ist grundsätzlich Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit vorbehalten (auf kommunaler Ebene auch EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern). Zugleich wird das Einbürgerungspotenzial der ausländischen Bevölkerung in Deutschland nur in geringem Maß ausgeschöpft. Durch diese beiden Faktoren ist die Lücke zwischen Wohn- und Wahlbevölkerung in Deutschland in den letzten Jahren größer geworden – und damit auch das Problem der Unterinklusion.

Die Anfang 2024 beschlossene Reform des Staatsangehörigkeitsrechts sieht verschiedene Änderungen vor, um Einbürgerungen zu erleichtern. So wird die Zeit des geforderten Aufenthalts verkürzt. Eine zentrale Stellschraube ist aber vor allem die generelle Hinnahme von Mehrstaatigkeit; damit wird eine wesentliche Einbürgerungshürde beseitigt. Das begrüßt der SVR. Wenn die doppelte Staatsangehörigkeit über Generationen hinweg unbegrenzt weitergegeben wird, wirft das aus seiner Sicht aber demokratiepolitische Fragen auf. Im Zuge der Reform wird es dann immer mehr Menschen geben, die nicht nur in Deutschland wählen dürfen, sondern auch im Herkunftsland der ursprünglich nach Deutschland zugewanderten Person. Sie können damit über politische Entscheidungen mitbefinden, von denen sie gar nicht betroffen sind. Der SVR schlägt deshalb vor, Ansätze zu prüfen, die Mehrstaatigkeit grundsätzlich ermöglichen, zugleich jedoch die Probleme begrenzen, die mit Überinklusion verbunden sind. Dazu gehören das vom SVR weiterentwickelte Modell eines Doppelpasses mit Generationenschnitt wie auch die in diesem Jahresgutachten vorgestellte Idee der ruhenden Staatsangehörigkeit. Kritisch sieht der SVR zudem die beschlossene Verschärfung beim Einbürgerungskriterium der Lebensunterhaltssicherung. Darüber hinaus sieht er es als eine verpasste Chance, dass im Rahmen der Reform keine Regelung getroffen wurde, um Staatenlosigkeit in Deutschland zu verringern.

Insgesamt ist die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ein großer Schritt in die richtige Richtung: Sie könnte die Einbürgerungszahlen nachhaltig erhöhen. Allerdings setzt dies voraus, dass die Behörden mit der Umsetzung Schritt halten können; nur dann wird die mit der Reform bezweckte erleichterte Einbürgerung auch ein Erfolg. Viele der zuständigen Behörden sind jetzt schon stark überlastet. Der SVR empfiehlt, die Einbürgerungsbehörden personell angemessen auszustatten, eine stärkere Zentralisierung zu prüfen, die Verwaltungspraxen zu vereinheitlichen und Behördenvorgänge stärker zu digitalisieren.

Politische Teilhabe beschränkt sich nicht auf die Teilnahme an Wahlen. Es gibt verschiedene andere Formen, die nicht von der Staatsangehörigkeit abhängen. Die politische Teilhabe von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte kann auch durch Integrations- und Teilhabe- oder Partizipationsgesetze gefördert werden. Auf Länderebene zeigte sich hier in den letzten fünf Jahren eine dynamische Entwicklung: Gesetze wurden neu erlassen, novelliert oder werden derzeit erarbeitet. Auch auf Bundesebene sieht der Koalitionsvertrag der Ampelparteien ein Partizipationsgesetz vor.

Die Erarbeitung und Novellierung von Integrations- und Teilhabegesetzen kann Anlass und Rahmen für eine gesamtgesellschaftliche Debatte sein, aus der ein gemeinsames Verständnis von Integration und Teilhabe erwächst. Dafür sollten Beteiligungsmöglichkeiten für die organisierte Zivilgesellschaft, für Wissenschaft, Verbände und Verwaltung auf verschiedenen Ebenen genutzt und ausgebaut werden. In den Gesetzen selbst sollten nach Auffassung des SVR Beratungs- und Partizipationsgremien mit möglichst klar gefassten Aufgaben und Kompetenzen verankert werden, um ihre Position zu stärken.

Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. B.3.1 und B.3.2.

9. Praktische Umsetzung: Bürokratie abbauen, Recht verständlicher formulieren

Es sind rasante und mitunter herausfordernde Entwicklungen, die der SVR in den vergangenen fünf Jahren beobachtet und im Rahmen seiner wissenschaftlichen Analysen beratend begleitet hat. Alte und neue gewaltsame Konflikte, der verschärfte menschengemachte Klimawandel, eine global steigende Fluchtmigration, Aus- und Nachwirkungen der Corona-Pandemie: Die Welt ist dauerhaft im Umbruch. Darauf müssen sich politische Entscheiderinnen und Entscheider einstellen – und zwar besser als bislang.

In der Bilanz zeigt sich:  Die Politik hat im Bereich Migration und Integration zwar außerordentlich viele Veränderungen auf den Weg gebracht. Dieses Politikfeld gehört zu den dynamischsten überhaupt.  Zugleich ist die Umsetzung von Gesetzen durch die Verwaltungen in Bund und Ländern oft zu langsam und zu bürokratisch. Die Regelungen erweisen sich häufig als zu kompliziert. Darüber hinaus sind die aktuellen Herausforderungen – in der Verwaltungspraxis, aber z. B. auch auf dem Wohnungsmarkt oder im Bildungsbereich – nicht nur ein Ergebnis der gestiegenen Zuwanderung (vgl.  Kernbotschaft 5 und 7). Verantwortlich dafür ist vielmehr die Tatsache, dass über Jahre hinweg zu wenig  investiert wurde  und  Investitionen  durch  Überregulierung  verzögert werden. Die fehlende Digitalisierung der Behörden und deren mangelnde Kooperation sind ein übergeordnetes Problem, das sich auch auf das Aufnahme- und Integrationsmanagement bei Neuzugewanderten (mit oder ohne Fluchthintergrund) negativ auswirkt (s. dazu Kernbotschaft 6).

Auch die vielen Änderungen von komplexer werdenden Rechtslagen erschweren die praktische Umsetzung. Für die Behörden bedeutet jede Gesetzesänderung zusätzlichen Aufwand: Neue Regeln sind in entsprechende Bearbeitungsvorgänge umzusetzen; das Personal muss weitergebildet werden, ggf. werden auch neue Bearbeitungsprogramme gebraucht. Die gesetzgebenden Organe sollten bei der Entwicklung neuer Regelungen die Umsetzung erheblich stärker berücksichtigen. Sonst laufen auch wichtige und richtige politische Initiativen wie die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ins Leere und bewirken bei den Betroffenen Enttäuschung und beim ohnehin überlasteten Behördenpersonal Erschöpfung und Frustration. In vielen Einbürgerungsbehörden stauen sich die Anträge jetzt schon dramatisch. Der SVR empfiehlt deshalb dringlich, die zuständigen Ämter besser auszustatten und vorzubereiten, damit die Reform in der Praxis auch die beabsichtigte Wirkung entfalten kann (vgl. Kernbotschaft 8). Er erinnert daran, dass eine Stärkung der Regelsysteme vor zielgruppenbezogenen Sonderprogrammen grundsätzlich Vorrang hat. Dies vereinfacht auch die Umsetzung in den Behörden.

Schließlich muss das Recht transparenter und verständlicher werden. Hier sind die Politik und insbesondere die gesetzgebenden Organe gefordert. Das deutsche Erwerbsmigrationsrecht etwa ist mittlerweile so komplex, dass es kaum noch jemand versteht (s. Kernbotschaft 3). Wenn Deutschland ausländische Arbeitskräfte effektiv anwerben will – und die Konkurrenz ist groß, deshalb erfordert das unbedingt mehr Einsatz –, dann muss es auch an dieser Stelle ansetzen: Es braucht mehr Mut zur Vereinfachung, um die geltenden Regelungen nach innen wie außen verständlich zu vermitteln.

10. Trotz situativer Skepsis: Bevölkerung bleibt grundsätzlich offen für Zuwanderung

Politik muss Handlungsfähigkeit beweisen und Entwicklungen gestalten – in ruhigen wie in stürmischen Zeiten. Das gilt auch für Fragen, die den Zusammenhalt einer diversen Gesellschaft betreffen. Migration – allgemein betrachtet, ohne Differenzierung zwischen Erwerbs- und Fluchtmigration – wird zwar in Umfragen derzeit wieder als eines der drängendsten Probleme genannt und auch als polarisierend wahrgenommen. Zugleich ist sich die Mehrheit aber weiterhin einig, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Die Bevölkerung in Deutschland sieht Zuwanderung nicht grundsätzlich skeptisch. Eine Langzeitbetrachtung belegt zudem, dass die Einstellungen der Bevölkerung zu diesem Thema über die letzten zwanzig Jahre positiver geworden sind. Die Mehrheit erwartet aber besonders im Bereich Fluchtmigration eine Steuerung durch die Politik, etwa in Bezug auf das Ausmaß von Zuwanderung, die Aufnahmekriterien und die Erwartungen, die an Neuankömmlinge zu stellen sind. So könnte auch eine Polarisierung im öffentlichen Diskurs vermieden werden. Dabei ist es dringend geboten, das Thema Migration versachlichend, wissensbasiert und lösungsorientiert zu behandeln.

In der Bevölkerung hat sich das Bewusstsein gefestigt, dass Deutschland auf Zuwanderung angewiesen ist. So möchte die Mehrheit der jeweils Befragten Menschen mit einem Arbeitsplatzangebot zuwandern lassen. Auch die Freizügigkeit innerhalb der EU wird mehrheitlich unterstützt; hier gibt es aber auch Einschränkungen. Die Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine ist etwas geringer als zu Beginn des Krieges, aber weiterhin hoch, trotz großer Herausforderungen bei Unterbringung und Integration. Dennoch machen sich viele Menschen Sorgen. Angesichts infrastruktureller Defizite wie Wohnraummangel fragen sie sich, ob das Land Neuzuwandernde angemessen aufnehmen kann, ohne dabei Konkurrenz zu verschärfen. Diese Sorgen müssen ernst genommen werden.

Ein Einwanderungsland zu sein bedeutet nicht, jede Form von Einwanderung uneingeschränkt zuzulassen. Stattdessen muss auf der Basis klar definierter Regeln bestimmt werden, wer Zutritt erhält und bleiben kann und wer wieder gehen muss. Fluchtbewegungen werden absehbar weiterhin zum Alltag gehören. Die Auswirkungen sind nicht nur in Deutschland und Europa zu spüren, sondern auch in vielen anderen Ländern, in denen weltweit die meisten Menschen Schutz suchen. Die Aufnahme und nachhaltige Integration von Schutzbedürftigen ist deshalb nicht nur auf eine solidarisch ausgerichtete und völkerrechtskonforme Politik angewiesen, sondern auch ganz wesentlich auf die Unterstützung der breiten Gesellschaft – von Wirtschaft und Vereinen, Verbänden und Ehrenamtlichen vor Ort. Entsprechende Strukturen, besonders auf kommunaler Ebene, sind daher von unschätzbarem Wert.

Für weitere Informationen über Einstellungen zu Zuwanderung s. Kap. B.1.3.

Publikationen

Jahresgutachten 2024. Kontinuität oder Paradigmenwechsel? Die Integrations- und Migrationspolitik der letzten Jahre

Die zehn Kernbotschaften zum Jahresgutachten 2024

Presseinformation | Zwischen Öffnung und Restriktion: Die Migrations- und Integrationspolitik der letzten fünf Jahre

Das Factsheet zum Jahresgutachten 2024

Expertise von Franz Beensen, Prof. Dr. Gert Pickel sowie Dr. Alexander Yendell
Expertise von Prof. Dr. Thomas Bliesener
Expertise von Prof. Dr. Jörg Bogumil, Jonas Hafner sowie André Kastilan
Expertise von PD Dr. Roman Lehner
Expertise von Dr. Olivier Vonk und Dr. Luuk van der Baaren

Über das SVR-Jahresgutachten

Der Sachverständigenrat veröffentlicht jeweils im Frühjahr sein jährliches Gutachten. Das Jahresgutachten liefert eine wissenschaftlich fundierte Analyse, wie sich die Integration im Sinne chancengleicher Teilhabe in zentralen gesellschaftlichen Bereichen (z. B. Arbeitsmarkt, Bildung) entwickelt und wo weiterhin Handlungsbedarf besteht. Im Themenfeld Migration werden insbesondere Entwicklungen der Zuwanderungssteuerung und Perspektiven der Migration auch im internationalen Vergleich untersucht. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Analysen entwickelt das unabhängige Expertengremium Bewertungen und Handlungsempfehlungen in den Themenfeldern Integration und Migration. Hauptziele des Jahresgutachtens sind die kritische Politikberatung und -begleitung sowie die sachliche Information der Öffentlichkeit.

Vorjahre

Sämtliche Informationen zu den Jahresgutachten der Vorjahre (inkl. Expertisen und Grafiken) finden Sie hier: https://www.svr-migration.de/publikationen/

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